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Krank zur Arbeit – und die Folgen

Krankheitsbedingte Fehlzeiten, in der Fachsprache Absentismus genannt, stellen sowohl Unternehmen als auch die Gesellschaft als Ganzes vor große Herausforderungen. Dabei sind krankheitsbedingte Ausfälle nur eine Seite der Medaille. Ein Interview mit Dr. rer. pol. Nadja Amler, Stabsstelle Vorstand, Klinikum Altmühlfranken. Dr. Amler forscht zu Präsentismus und dessen Folgen.

Mal ketzerisch gefragt: Wenn jemand sich krank oder halbkrank zur Arbeit schleppt, dann ist das doch aus Arbeitgebersicht prima. Denn statt im Bett zu liegen, bringt der Mitarbeiter doch vielleicht noch ein Drittel seiner üblichen Leistung?

Ja und nein, kurzfristig mag es aus Arbeitgebersicht besser sein, wenn ein Mitarbeiter zur Arbeit kommt, obwohl er nicht zu 100 Prozent gesund ist. Mittel- und langfristig aber kann das nicht im Sinne des Arbeitgebers sein. Im Allgemeinen muss man bei der Betrachtung aber unterscheiden, um welches Krankheitsbild es sich handelt. Bei manchen Krankheitsbildern, wie beispielsweise Depressionen oder chronischen Rückenschmerzen, kann es auch förderlich sein, wenn die Mitarbeiter zur Arbeit gehen, obwohl sie sich nicht zu 100 Prozent wohlfühlen. Im Allgemeinen aber ist es für alle Beteiligten besser, wenn die Mitarbeiter bei Krankheit zu Hause zu bleiben.

Was halten Sie von Aufforderungen des Vorgesetzten, jeder Mitarbeiter solle doch bitte genauer prüfen, ob er wirklich krank sei, da Krankheitstage in letzter Zeit zugenommen hätten?

Ich finde eine solche Aussage äußerst schwierig, zumal eine solche Aufforderung wahrscheinlich vor allem bei den Mitarbeitern ankommt, die ohnehin dazu neigen, sich krank zur Arbeit zu schleppen. Insofern denke ich, dass man damit das Problem des Präsentismus erst einmal noch verschärft.

Im Gegensatz dazu glaube ich nicht, dass man damit wirklich die Mitarbeiter erreicht, denen eine solche Aufforderung gelten müsste. Es wird immer Mitarbeiter geben, die gerne einmal den einen oder anderen Tag länger als eigentlich nötig zu Hause bleiben. Ein solches Verhalten wird man mit so einer Aufforderung meines Erachtens nach nicht eindämmen können. Im Gegenteil – eine solche Aussage erhöht noch den Druck auf den Großteil der Beschäftigten, die sorgfältig und gewissenhaft ihrer Beschäftigung nachkommen. Kurzfristig werden sich die Fehlzeiten damit wahrscheinlich eindämmen lassen, mittel- und langfristig aber ist das sicherlich nicht der richtige Ansatz.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Berufsgruppen, bei denen Mitarbeiter am häufigsten krank sind – wie aktuell ja laut BKK-Report die Reinigungskräfte – und Präsentismus?

Hierzu sind mir keine Studien bekannt. Aus dem Bauch heraus könnte ich mir durchaus vorstellen, dass ein solcher Zusammenhang existiert.

Welche Aspekte werden beim Präsentismus unterschätzt?

Eigentlich alles. Das Phänomen als solches, das Ausmaß und vor allem auch die Auswirkungen. Mitarbeiter gefährden nicht nur die Gesundheit ihrer Kollegen, sondern auch ihre eigene. Diversen Studien zufolge ist auch das Risiko eines vorzeitigen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben deutlich erhöht. Dies wird oftmals unterschätzt.

Warum wird Präsentismus nicht so stark beachtet wie die Abwesenheit?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, dass sich viele dessen gar nicht so bewusst sind. Fehlzeiten sind viel offensichtlicher und werden den Unternehmen immer wieder vor Augen geführt. Das ist ja auch das, was die Betriebe tagtäglich tangiert.

Fehlzeiten sind im Unternehmen viel präsenter, sie werden erfasst und den Betrieben immer wieder vor Augen geführt. Präsentismus wird oft gar nicht so wahrgenommen, bzw. fällt nicht auf oder erst, wenn ein Mitarbeiter wirklich sehr deutlich unter seiner normalen Arbeitsleistung bleibt. Die Produktivität muss dann aber in der Regel schon deutlich verringert sein.

Die Produktivität ist in den meisten Bereichen auch sehr schwer zu beobachten. Das macht das Ganze nicht einfacher. Dieser Zusammenhang kann mit dem Eisberg-Modell gut veranschaulicht werden. Die Fehlzeiten sind ersichtlich, der größere Teil des Problems aber schlummert unter Wasser im Verborgenen und ist nur schwer zu erkennen. Sicherlich ist auch die Unfallgefahr erhöht, wenn jemand immer wieder im kranken Zustand arbeitet. Die Konzentrationsfähigkeit ist dann auch deutlich herabgesetzt.

Hinzu kommt, dass das Phänomen bzw. das Problem auch noch gar nicht so lange bekannt ist. Es bedarf wahrscheinlich einfach noch Zeit, bis den Unternehmen die Relevanz der Thematik so richtig bewusst wird. Auch die Forschung ist noch am Anfang.

Ferner vermag ich nicht einzuschätzen, inwiefern das Phänomen in der Praxis vielleicht auch gerne übersehen wird. Die Unternehmen verstehen die Problematik zwar grundsätzlich. Macht man ihnen aber beispielsweise deutlich, dass bei erfolgreichen Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements normalerweise erst einmal davon auszugehen ist, dass die Fehlzeiten steigen werden, reagieren viele mit Unverständnis. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille.

Danke für das Gespräch!

Interview: Robert Baumann

Mehr zum Thema lesen Sie in der rhw management-Ausgabe 3/2017

Foto: privat

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